Wie das Verborgene sichtbar wird

Einst lebten wir im Verborgenen. Einer Welt aus unzähligen Aneinanderreihungen von Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren und Jahrhunderten. Geprägt von schönen und schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit, kurzen Jetzt-Momenten des entgrenzenden Glücks und hingebungsvollen Spekulationen auf die Zukunft. ~ Diese Zeithaftigkeit, so erlebe ich es, scheint sich mehr und mehr aufzulösen und einer neuen Zeitqualität zu weichen, die sich mitunter unmittelbar in das aktuelle Tagesgeschehen einschwingt. Einem Geschehen, das kein Anfang und Ende mehr zu haben scheint, weil sich scheinbar Vergangenes, offenbar Gegenwärtiges und sonderbar Zukünftiges mehr und mehr durchdringen. ~ So wird Zukunft plötzlich Gegenwart und längst Vergangenes unvermutet präsent im Augenblick. ~

Wie kann es sein, dass alles unversehens sichtbar wird? Uns zeigt und offenbart wie auf dem Holodeck der US-amerikanischen Kultserie Raumschiff Enterprise? Wo wir eintreten in einen Raum, der virtuelle Welten und Simulationen durch holografische Projektion erzeugt? ~

Offenbar ist es so, dass wir uns gegenwärtig in einem Zeitalter der grundlegenden Wandlung unseres Weltbilds befinden. Einer Wandlung hin zum Durchbruch eines zunehmend erwachenden, erweiterten Bewusstseins. Vielmehr noch: Einer Manifestierung einer neuen Bewusstseinsstruktur, die sich jetzt aus den einst verborgenen Tiefen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erheben scheint: Dem integralen Bewusstsein, wie es ein Jean Gebser einst nannte und damit den Begriff prägte.

(s. auch Beiträge zu Jean Gebser und zur Integralen Theorie und Lebenspraxis auf diesem Blog).

Ein Bewusstsein, dessen Besonderheit darin besteht, dass alles gleichzeitig sichtbar wird: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und das in diesem einen bewussten Moment, wo wir uns dessen erahnend gewahr werden. ~ Dadurch wird der Ursprung des Lebens selbst im Hier und Jetzt augenblicklich für uns alle sichtbar. Scheint er sozusagen hindurch, durch den trennenden Schleier der Illusion, der täuschenden Anwesenheit des „offenbar“ Verborgenen. Gebser spricht hier auch vom „diaphanen (durchscheinenden) Bewusstsein“, einer integralen Bewusstseinsstruktur, die die vierte Dimension, will heissen, die Zeit ent-deckt. Erst durch das Ent-decken der Zeit, so Gebser, werden die von der Menschheit in verschiedenen Epochen unserer Geschichte erfahrenen unterschiedlichen Zeitverständnisse anderer Bewusstseinsstrukturen (archaisch, magisch, mythisch, mental) wahrhaft bewusst und damit sichtbar. So die archaische „Vor-Zeitlichkeit“, die magische „Zeitlosigkeit“, die mythische, „zyklische Zeithaftigkeit“ oder „polare Naturzeit“ und die mentale, „gemessene Uhrenzeit“ oder „Begriffszeit“. ~

Indem wir uns nun all der verschiedenen Formen von Zeit bewusst werden und diese in unserem Bewusstsein integrieren, passiert folgendes: Wir befreien uns von den uns dominierenden Zeitformen und werden plötzlich „zeitfrei“. Die gewonnene Freiheit von der Zeit wiederum entspricht der bewusst realisierten, d.h. nach-vollzogen-en und immer gegenwärtigen Nähe zu unserem Ur-Sprung, d.h. jenem Moment, wo wir einstmals in diese Welt hinein „sprangen“. Aber auch zum nahenden, d.h. (zu)künftigen Sprung zurück ins „Ur“. ~

„Das Ganze, das wir magisch dumpf erleben, dessen wir mythisch in der Polarität der sich bildhaft schildernden Welt ansichtig werden, das wir, Teile und Summen addierend, uns mental-rational vorzustellen versuchen –, das Ganze wird wahrnehmbar durch alle Bereiche hindurch: Ursprung wird Gegenwart.“ (Jean Gebser; s. Beitrag zu Jean Gebser auf diesem Blog)

Die bewusste Befreiung von und damit Überwindung der Zeit geht mit einer gleich-zeit-igen bewussten Überwindung des dreidimensionalen Raums einher, meint Gebser. ~ So wird es, auch meiner eigenen Wahrnehmung nach, möglich, dass „scheinbar“ Verborgenes heute mehr denn je sichtbar wird (wie uns die Leitmedien, vor allem die sozialen Medien zuweilen gnadenlos deutlich spiegeln). Dass vieles ans „Tageslicht“ kommt, was (noch) im Ver-borg-enen lag, was jetzt ge-borg-en werden will, um endlich „gesehen“, „begriffen“ und schliesslich „gewandelt“ zu werden im und mit dem Licht des ur-sprüng-lichen Bewusstseins. ~

So wird Ursprung Gegenwart, werden wir Zukünftigem schon heute gewahr. Weil Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Wahrheit eins sind, ge-borg-en im Ursprung, der jetzt für uns alle mehr denn je fühlend, sehend und physisch sichtbar wird.

Literatur

  • Gebser, Jean (1966). Ursprung und Gegenwart (1. und 2. Teil). Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.
  • Gebser, Jean (1970). Der unsichtbare Ursprung. Olten und Freiburg im Br: Walter-Verlag.

© 2016 Text by Birgitta Borghoff. brückenwege.ch. All rights reserved.

Schreiben Sie einen Kommentar