Eine exemplarische Leadership-Analyse am Beispiel von
Bertrand Piccard, Abenteurer, Arzt, Forscher, Pilot, Psychiater, Wissenschaftler, Hypnosetherapeut … und Inspioneer
Diese wissenschaftliche Portfolio-Arbeit habe ich im Herbstsemester 2014 im Rahmen meines Studiums in Angewandter Linguistik mit Vertiefung Organisationskommunikation an der ZHAW verfasst. Dies innerhalb des Kurses „Leadership Skills“ im Modul „Führung und Beratung“. Der Fokus des Kurses lag auf der Formulierung grundlegender Modelle von Führung und organisationalem Verhalten, der Beschreibung von Zusammenhängen und Widersprüchen in den Erwartungen an Führungspersonen und -verhalten sowie der Reflexion ethischer Fragestellungen. Überdies wurden anhand von Fallbeispielen modellbasierte Möglichkeiten der Einflussnahme auf organisationales Verhalten aufgezeigt. Ziel der Portfolio-Arbeit war es, anhand eines individuell gewählten Fallbeispiels für personale Führung das beobachtete Führungsverhalten zu beschreiben, zu analysieren und die im Kurs entwickelten ethischen Kriterien entsprechend anzuwenden.
1. Auswahl Fallbeispiel
Die Autorin war in den Jahren 2001-2002 für die damalige Swissair und Unique (Flughafen Zürich AG) tätig. An einem durch den Flughafen Zürich realisierten Event und Treffen international tätiger Airport Managerinnen und Manager im Frühjahr 2002 lernte sie Bertrand Piccard als Keynote Speaker mit einem Beitrag über „Teamspirit am Beispiel der Weltumkreisung im Ballon“ kennen. Piccards Auftritt und Gedankengut sind der Verfasserin noch heute lebhaft in Erinnerung.[i] Dies ist der Grund, die Führungspersönlichkeit Bertrand Piccard hinsichtlich des Themas Leadership als Gegenstand der Untersuchung zu wählen.
1.1 Führungspersönlichkeit – Bertrand Piccard
„Ein Pionier ist nicht immer der, der Erfolg hat, sondern der, der sich nicht vor Fehlschlägen fürchtet.“ (Bertrand Piccard)
Der Schweizer Bertrand Piccard wurde am 1. März 1958 in einem Umfeld von Forschern und Wissenschaftlern in Lausanne geboren. Sein Grossvater, der Physiker August Piccard (1884-1962), eroberte 1931 den Weltraum durch die Erfindung des Stratosphärenballons und sah als erster Mensch die Erdkrümmung aus 16‘000 Metern Höhe mit blossem Auge. Er wendete das Prinzip des Ballons später auch auf die Tiefen des Ozeans an. Piccards Vater, der Ozeanograph Jaques Piccard (1922-2008) stellte mit -10‘916 Metern den Tiefseetauchweltrekord im Marianengraben[ii] auf (vgl. Dieminger / Jeanneret 2014). Bertrand Piccard selbst ist ausgebildeter Arzt mit Spezialisierungen in Psychiatrie, Psychotherapie und Hypnose, leidenschaftlicher Luftfahrt-Abenteurer, Pilot, Fluglehrer[iii] und Redner (vgl. BP 2014). Darüber hinaus ist er Initiant, Gründer, Chairman und Pilot von SI (siehe hierzu Kap. 1.2.2), Präsident der Stiftung Winds of Hope[iv] und Botschafter der United Nations. Zusammen mit dem Briten Brian Jones umrundete Piccard 1999 erstmals in der Geschichte der Menschheit die ganze Welt in einem Heissluftballon (vgl. BP 2014).
1.2 Führungssituation – Projekt Solar Impulse (SI)
Hinter dem Namen SI verbirgt sich ein von Bertrand Piccard und André Borschberg im Jahr 2003 initiiertes Flugzeugprojekt sowie die Benennung der von ihnen entwickelten Solarflugzeuge (s. Abb. 1). Ziel des innovativen und pionierhaften Projekts ist es, ohne Treibstoff und Schadstoffausstoss die Welt zu umrunden und einen Beitrag zur sinnvollen Nutzung und Erforschung erneuerbarer Energien zu leisten. Dabei soll verdeutlicht werden, wie sowohl der Verbrauch natürlicher Ressourcen als auch die Abhängigkeit von fossilen Energien durch saubere Technologien (Cleantech) reduziert werden können. Das Projekt wurde mit der Intention gegründet, „Träume und Emotionen wieder ins Zentrum des wissenschaftlichen Abenteuers [zu] stellen“ (vgl. SI 2014) und über die Energiefrage hinaus „alle Menschen [zu] ermutigen, Pioniere im Rahmen ihrer eigenen Existenz, […] Denk- und Handlungsweise zu werden.“ (vgl. ebenda). Nach ersten Testflügen in der Schweiz im Jahr 2010 und weiteren erfolgreichen Flügen über das Mittelmeer nach Marokko (2012) und von der amerikanischen West- bis zur Ostküste (2013) ist für das Jahr 2015 der Versuch der Weltumrundung mit Zwischenlandungen auf allen Kontinenten der nördlichen Hemisphäre geplant (vgl. ebenda).[v]
Abb. 1: Fotos von der Solar Impulse (Fluggerät) (vgl. Red Bull 2014)
1.3 Forschungsleitende Fragen, Vorgehen und Methodik
Vor dem Hintergrund der Arbeit stellen sich die folgenden Fragen: Wie lassen sich Piccards Leadership Ansatz, Führungsphilosophie und -stil beschreiben? Welche spezifischen Fähigkeiten, Charaktereigenschaften und Stärken sind beobachtbar? Inwiefern reflektieren Piccards Persönlichkeit, Führungsphilosophie und -verhalten dessen Vision von SI? Wie wird dadurch die Zusammenarbeit zwischen Piccard, seinen Mitarbeitenden und anderen Stakeholdern beeinflusst?
Das Vorgehen bei der Durchführung der Portfolio-Arbeit gliedert sich in vier Phasen (s. Abb. 2). Für die Arbeit wurde ein Methodenmix bestehend aus einem Desk Research und einer Analyse des Fallbeispiels gewählt. Die Analyse erfolgt auf der Grundlage der Unterrichtsinhalte und ethischen Kriterien des Standardwerks „Introduction to leadership. Concepts and Practice“ von Peter G. Northouse (2014). Dabei werden folgende Themen in Bezug auf die Forschungsfragen näher beleuchtet: 1.) Leadership Ansatz, Führungsphilosophie und -stil. 2.) Fähigkeiten, Charakter und Stärken. 3.) Vision 4.) Zusammenarbeit mit Bertrand Piccard. Die Arbeit schliesst mit einer Diskussion und Reflexion der Analyse-Ergebnisse. Resultat der Untersuchung ist die vorliegende Portfolio-Arbeit.
2 Analyse Fallbeispiel
2.1 Leadership Ansatz, Führungsphilosophie und -stil
Rückblickend auf die Life-Begegnung sowie die im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit getätigten Recherchen über die Führungspersönlichkeit Bertrand Piccard wird deutlich, dass der Schweizer Abenteurer und Flugpionier tendenziell zur Generation der New bzw. Emerging Leader (seit ca. 1985) gezählt werden kann, wenngleich – aufgrund der starken familiären Prägung und -geschichte (vgl. hierzu Kap. 1.2.1) – auch Bezüge zur Great Man Theory (seit 1900) erkennbar sind (vgl. Northouse 2014: 3f.). Als Great Man (Trait approach) verfügt Piccard nach eigenen Aussagen über einen angeborenen markanten Wesenszug – den so genannten Pioneering spirit: „Pioneering spirit is something I have in my blood since a very long time, since the time when my grandfather did the first flight ever in the stratosphere […]” (vgl. Piccard in Le Meur 2010). Vor dem Hintergrund neuer Leadership Ansätze kann Piccard zur Gruppe der visionären und charismatischen Führungspersönlichkeiten gezählt werden. Visionär in dem Sinne, als er mit seinem Flugzeugprojekt Solare Impulse neue revolutionäre Wege in der Luftfahrt beschreitet, charismatisch (vgl. Pinnow 2011: 58f.) insofern, als Piccard mit seiner Vision eine gewisse Magie und Anziehungskraft nicht nur auf die Mitarbeitenden im SI Projektteam ausstrahlt, sondern auch auf die breite Öffentlichkeit und zwar in Form einer wirtschaftlichen, umweltpolitischen und wissenschaftlichen Botschaft (vgl. SI 2014, vgl. Kap. 2.3). In der Verbindung von Vision und Charisma gepaart mit seinem abenteuerfreudigen Pionier- und Unternehmergeist erscheint Piccard insgesamt als Pioneering Leader (vgl. Sugerman et al. 2011), der durch die Kombination vielfältiger Fähigkeiten und Talente implizit und explizit einen systemischen Approach verfolgt (vgl. insbesondere Kap. 2.2). Darüber hinaus trägt Piccard durch die Erfüllung seiner Vision mit dazu bei, dass Menschen und Organisationen sich kontinuierlich verändern und weiterentwickeln (zu Transformational und Spiritual Leadership vgl. Northouse 2014: 3).
Piccards Führungsphilosophie basiert auf McGregor‘s Theorie Y Managementtheorie (vgl. Northouse 2014: 86ff.), die besagt, dass der Mensch grundsätzlich engagiert und selbstmotiviert ist, seine Arbeit liebt und gerne Verantwortung übernimmt. Diese Philosophie spiegelt sich auch in der Konstellation des Teams im SI Projekt wieder, wo Mitarbeitende permanent damit konfrontiert sind, sich mit vielen Zweifeln und Fragezeichen auseinander zu setzen, um ein komplett neues Fluggerät ohne Benchmark zu realisieren. Gefordert ist ein hohes Mass an Kreativität verbunden mit einem grossen Engagement für die Sache (vgl. SI 2014).
Piccards Führungsstil lässt sich als demokratisch beschreiben im Sinne einer „I consult“ Philosophie (vgl. König 2014). Getreu seinem Motto „Changer d‘ altitude“ (dt.: die Höhe verändern)[vi], das gleichzeitig auch der Titel seiner neuesten Publikation ist (vgl. Piccard 2014), gelingt es Piccard offensichtlich, Menschen davon zu überzeugen und zu ermutigen, das zu tun, an was er selbst glaubt und sagt. Innerhalb des SI Projekts wird deutlich, dass Piccard die Rolle des visionären Leaders, Ideengebers und Storytellers (dt.: Geschichtenerzähler)[vii] einnimmt, der die Botschaft des Projekts an Mitarbeitende, Sponsoren, Medien und die breite Öffentlichkeit vermittelt, den kontinuierlichen Stakeholder-Dialog sucht und führt sowie bewusste Beziehungspflege betreibt (Relationship Style). Demgegenüber kümmert sich SI Mitinitiator und Piccards Partner, der ausgebildete Ingenieur, Manager, Flugzeug- und Helikopterpilot André Borschberg in der Funktion als CEO neben der wissenschaftlichen Betreuung des Technikteams um die Planung und operative Umsetzung des Projekts (Task Style) (vgl. Northouse 2014: 106ff.).
2.2 Fähigkeiten, Charakter, Stärken
Bertrand Piccard kann als eine enorm vielseitige und vielschichtige – man könnte sogar sagen hoch- bzw. vielbegabte[viii] – Führungspersönlichkeit beschrieben werden, die über ungewöhnlich viele Interessen und Fähigkeiten verfügt. Dies spiegelt sich u.a. auch in den mannigfaltigen Funktions- und Rollenbezeichnungen sowie Attributen auf Piccards Website (vgl. BP 2014; s. Abb. 3) wieder, aber auch in der Aussenwahrnehmung durch die Medien sowie andere Autoren und Journalisten, die über ihn geschrieben haben (vgl. z.B. Dieminger / Jeanneret 2014; Bärtschi / Spieler 2011): Abenteurer, Weltrekordler, Forscher und Vater, fliegender Psychiater, Luftfahrtpionier und Menschenfreund oder Kunstpilot, Umweltbewahrer, zwischen Realist und Visionär. Piccard selbst bezeichnet sich als „Inspioneer“ (BP 2014; eng. „to inspire“ und „pioneer“).
Abb. 3: Attribute, Rollen- und Funktionsbezeichnungen von Bertrand Piccard (vgl. BP 2014)
Als Forscher und Pionier auf dem Gebiet des menschlichen Geistes, frei von stereotypisierenden Dogmen, untersucht Piccard menschliches Verhalten in Extremsituationen und spricht sich für die Notwendigkeit einer allumfassenden Neugier auf das Leben aus. Als enthusiastischer Ballonfahrer und Pilot packt Piccard mutig neue Herausforderungen an, die andere Menschen oftmals für unmöglich halten (z.B. erste Weltumrundung im Heissluftballon oder treibstoffloses Fliegen mit der SI). Als Arzt, Psychiater und Hypnotherapeut mit grossem Interesse an orientalischen Philosophien und spirituellen Themen stellt er den Menschen und seine Lebensqualität in den Vordergrund. Als Visionär verfügt er über die seltene Gabe, die symbolische Bedeutung und Relevanz seiner pionierhaften Projektideen zu Themen wie Nachhaltigkeit, Verantwortung, Armutsbekämpfung und neue Technologien für den Umweltschutz an die Öffentlichkeit zu vermitteln. Als überzeugender Kommunikator und Fundraiser gelingt es ihm immer wieder, Brücken zwischen den Extremen zu bauen und dort Synergien zu schaffen, wo normalerweise Gegensätze herrschen. Durch seine Bücher, Vorträge und Interviews sowie Begegnungen mit Politik und Medien kommuniziert Piccard proaktiv gegen aussen und plädiert für eine Welt, die bewusst Freiräume für Pioneering Spirit und Innovationen im Alltagsleben schafft (vgl. BP 2014; Dieminger / Jeanneret 2014).
Pioneering Leaders wie ein Bertrand Piccard verfügen über spezifische Stärken: Sie sind ausgesprochen gut darin, eine günstige Gelegenheit intuitiv zu erkennen, Wandel zu initiieren und Menschen in Bezug auf ein gemeinsames Ziel zusammen zu bringen. Sie trauen ihrem guten Instinkt, haben keine Angst davor, Neues zu wagen und entsprechende Risiken zu tragen. Sie übernehmen gerne die Führung und setzen sich hohe Ziele für sich selbst und andere. Sie gelten als Vorreiter und besitzen die Fähigkeit, Menschen zu inspirieren und energetisieren (vgl. Sugerman et al. 2011). In diesem Sinne entspricht ein Bertrand Piccard dem Archetypen des Entrepreneurs, der als Innovator oftmals seiner Zeit voraus ist (vgl. z.B. Risak / Iro 2007: 4; Fueglistaller et al. 2012). Vor diesem Hintergrund kann er auch als Entrepreneurial Leader charakterisiert werden, der die besondere Fähigkeit besitzt, Visionen zu entwickeln (vgl. Hefti / Levie 2014).
2.3 Piccards Vision von Solar Impulse (SI)
Mit Blick auf die ausgewählte Führungssituation wird deutlich, dass sich Piccards Persönlichkeit, Führungsphilosophie und -verhalten auch in der Vision des SI Projekts widerspiegeln.
Nach Northouse (2014: 150ff.) wird eine Vision erstens durch ein Bild von der Zukunft (Picture), zweitens durch eine Veränderung des Status Quo (Change) sowie drittens durch individuelle und organisationale Werte (Values) geformt. Viertens zeichnet sich eine Vision dadurch aus, dass ein vorgegebener Kurs (Map) eingehalten und definierte Ziele erreicht werden sowie fünftens Menschen dazu motiviert werden, sich proaktiv für das gesamtgesellschaftliche Gemeinwohl zu engagieren (Challenge).
Bezogen auf das Flugzeugprojekt SI lässt sich Piccards unternehmerische Vision wie folgt skizzieren (vgl. SI 2014; BP 2014):
Die 5 Elemente einer Vision am Beispiel von Solar Impulse |
Picture (Zukunftsbild): „Be a balloonist in your business. Pioneering spirit and innovation for inventing the future. Change altitude in the winds of life.” |
Change (Wandel): “Exploration to change the world”
Mit SI verfolgt Piccard die familiäre „Tradition von Forschung, Abenteuer und wissenschaftlicher Entwicklung“, mit dem Ziel, die Grenzen des Machbaren zu erweitern. Durch die Verringerung der Abhängigkeit des Menschen von fossilen Energien durch saubere Technologien können positive Emotionen rund um die erneuerbaren Energien geweckt und die Lebensbedingungen auf dem Planet Erde verbessert werden. |
Values (Werte): Mit SI stellt Piccard „Träume und Emotionen wieder ins Zentrum des wissenschaftlichen Abenteuers“ und möchte Menschen dazu ermutigen, “Pioniere im Rahmen ihrer eigenen Existenz […] Denk- und Handlungsweise zu werden.“ |
Map (Ziele): „Around the world in a solar airplane”
Im Jahr 2015 möchte Piccard die Welt mit einem Solarflugzeug umrunden – der SI. |
Challenge (Herausforderung): “[…] Let us try to give him [the human being] a personal interest to get into the way of thinking in terms of sustainable development. Let us prove that we are dealing here with an enormous new market with all sorts of economic and political outlets for those who understand how to invest in it in time. Let us point out the scientific interests, favor the pioneering spirit, let us promote a new fashion […] which will enable renewable energy users to be held in admiration. We should not try to force the population to follow the path outlined at Rio or Kyoto against its will, but let us give priority to those who invent or use new technologies that respect the environment. […].”
Mit dem Projekt SL stellen sich Piccard und sein Team folgenden Herausforderungen:
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Abb. 4: Die 5 Elemente einer Vision am Beispiel von Solar Impulse (Eigene Darstellung nach Northouse 2014)
2.4 Zusammenarbeit mit Bertrand Piccard
„Wer einem Piccard begegnet, für den ändert sich das Leben“ (vgl. Dieminger / Jeanneret: 2014: 186), so der Belgier Luc Trullemans, Hausmeteorologe im SI-Team, der Piccard bei der Weltumrundung mit dem Ballon durch alle Wetterlagen gelotst hat und diesen sehr bewundert. Nicht nur zwischen ihm, sondern auch zwischen André Borschberg, Mitinitiant von SI und vielen anderen Mitarbeitenden des Projekts seien im Verlauf der engen Zusammenarbeit enge Freundschaften entstanden, die weit über eine Arbeitsbeziehung hinausgehen. Trotz vielfältiger Meinungsverschiedenheiten ist eine grundlegende Wertschätzung gegeben, um Schwierigkeiten auf ehrliche Art und Weise zu lösen (vgl. ebenda: 187). Jean-Francois Rubin, Autor eines französischsprachigen Buchs über die Piccard-Dynastie beschreibt Piccard als „komplexe und charismatische Persönlichkeit, die als Psychiater und Aeronaut bezaubert oder nervt, aber niemanden gleichgültig lässt.“ (vgl. ebenda: 189). Gemäss Raymond Clerc, Flugleiter von SI, könne eine zu enge Freundschaft die Arbeit auch behindern. So müsse er z.B. im Hinblick auf das Flugtraining als Experte auf seinem Gebiet oftmals beharrlich sein und den „bad guy“ mimen, was gegenüber dem eigenen Chef Piccard nicht immer einfach sei. Brian Jones, Ko-Pilot bei der Weltumrundung mit dem Ballon, fasziniert an Piccard, dass dieser allen Menschen auf Augenhöhe begegne, sei es ein Prominenter wie ein Fürst Albert II. von Monaco oder die Sekretärin von nebenan (vgl. ebenda: 187; Bärtschi / Spieler 2011: 24). Auch in der externen Projektzusammenarbeit mit Solvay[ix], einem multinationalen Konzern bestehend aus internationalen Gruppen von Chemieunternehmen, seien die Mitarbeitenden voller Begeisterung für das SI Projekt und den Pioniergeist von Piccard. Laut Olivier Ferrary, Geschäftsführer von Solvay Acetow, habe die Arbeit an der SI „Innovationskraft und […] technisches Know-how weiter vorangetrieben und Teamgeist geschaffen.“ (vgl. Pankow 2014).
Piccards Frau Michèle erlebt den Abenteurer als neugierig und aufgeschlossen für vieles, fordernd, sehr anspruchsvoll bis perfektionistisch, selbstkritisch, ehrgeizig, manchmal auch egozentrisch und cholerisch bei gleichzeitiger Teamtreue, Toleranz und grossem Vertrauen gegenüber seinen Mitarbeitenden. Wird dieses missbraucht, seien einstmalige Freundschaften oftmals nicht mehr zu kitten (vgl. Dieminger / Jeanneret: 2014: 186f.).
3 Abschliessende Diskussion und Reflexion
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, das beobachtete Führungsverhalten der Person Bertrand Piccard im Kontext des Flugzeugprojekts SI zu analysieren und anhand der im Kurs entwickelten ethischen Kriterien zu beschreiben. Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Fallbeispiel-Analyse abschliessend diskutiert und reflektiert werden.
Aufgrund seines langjährigen Erfahrungs- und Faktenwissens auf den vielfältigsten Gebieten, gelingt es Piccard offensichtlich, Kopf (denken/verstehen), Herz (fühlen/vernehmen) und Hand (tun/umsetzen) auf natürliche, authentische und kreative Weise intuitiv zu kombinieren und seine Vision auf allen Ebenen zu integrieren sowie in verschiedenen Projekten zu manifestieren (zu Creative Leadership vgl. z.B. Puccio et al.: 62ff.). Als Forscher, Pilot, Arzt und Hypnosetherapeut mit einem ausgesprochenen Interesse an Spiritualität, baut er Brücken zwischen Wissenschaft, Intuition und Weisheit (vgl. Piccard 1998: 91ff.). Piccards Führungsverhalten und Wirken kann in diesem Sinne auch als Integrale Führung[x] bezeichnet werden, deren Herausforderung darin besteht, alle für die Führung von Menschen und Organisationen relevanten Faktoren zu integrieren: Persönlichkeitsentwicklung und Selbstmanagement (als Psychiater und Hypnosetherapeut), Personal- und Organisationsentwicklung (als visionärer Leader und Kommunikator), Entwicklung von Wissen und Kompetenzen (als Forscher, Innovator und Pilot), System- und Change Management (als Initiator und Gründer von SI) (zu Integraler Führung vgl. z.B. Deeg et al. 2010: 194ff.; Küpers 2006: 335ff.). Trotz Piccards offensichtlicher Vielbegabung, die als Indikator für multiple integrale Führungsfähigkeiten gesehen werden kann, lässt sich mit Blick auf das SI Projekt konstatieren, dass sich Piccard als Leader v.a. auf die Kommunikation und Vermittlung seiner avantgardistischen Vision gegenüber relevanten Stakeholdern konzentriert, während Mitgründer André Borschberg das SI Führungsteam durch seine langjährige Management- und Unternehmenserfahrung in der Rolle des Managers ideal ergänzt (Beziehungs- versus Aufgabenorientierung).
Vor dem Hintergrund seiner vielfältigen Fähigkeiten, Stärken und Werte, seines verantwortungsvollen, fairen sowie respektvollen Charakters, seiner visionären Ausstrahlungskraft, seiner pionierhaften Ziele und Handlungen sowie seinem gesamtgesellschaftlichen Einfluss in den Bereichen Nachhaltigkeit und Umweltschutz, entspricht Piccard dem Bild eines Ethical Leaders (vgl. Northouse 2014: 262ff.): Mit der Ballonfahrt als Metapher[xi] für das Leben und als Um-die-Welt-Segler ist es Piccard einerseits ein wichtiges Anliegen, Motivation und Abenteuergeist, Kommunikations- und Teampsychologie sowie das Management von Stress und Unbekanntem in seiner Tiefe zu untersuchen. Andererseits betreibt er als Energiebotschafter politisches Lobbying für den Umweltschutz und den Nachweis für dessen Rentabilität. Die Resonanz auf die Botschaften von SI in Wirtschaft und Politik sind gross und scheinen Piccards Vision zu bestätigen. Piccard erhält keinen Lohn von SI und ist überzeugt: „[…] um nützlich zu sein, muss man berühmt oder sehr reich sein. Ich bin nicht sehr reich, so benütze ich meine Berühmtheit, um meine Botschaft hinauszutragen. Ich mache mir aber nichts vor: Wäre ich kein Piccard und nicht mit dem Ballon um die Welt geflogen, würde mir niemand zuhören.“ (vgl. Bärtschi / Spieler 2011).
„Adventure is not necessarily a spectacular deed, but rather an „extra-ordinary“ one, meaning something that pushes us outside our normal way of thinking and behaving. Something that forces us to leave the protective shell of our certainties, within which we act and react automatically.Adventure is a state of mind in the face of the unknown,a way of conceiving our existence as an experimental field, in which we have to develop our inner resources, climb our personal path of evolution and assimilate the ethical and moral values that we need to accompany our voyage.“
(Bertrand Piccard)
Abb. 5: Bertrand Piccard und André Borschberg, Initianten und Gründer des Projekts Solar Impulse
Quellenverzeichnis
Fachliteratur und Unterrichtsmaterial
Boje, D. M. (2008). Storytelling Organizations. London: Sage.
Deeg, J. / Küpers, W. / Weibler, J. (2010): Integrale Steuerung von Organisationen. München: Oldenburg Verlag.
Dieminger, Susanne / Jeanneret, Susanne (2014): Piccard. Pioniere ohne Grenzen. Olten : Weltbild.
Eggert, Nancy, J. (1998): Contemplative Leadership for Entrepreneurial Organizations. Paradigms, Metaphors, and Wicked Problems. Westport (CT): Quorum Books.
Fueglistaller, Urs / Müller, Christoph / Müller, Susan / Volery Thierry (2012): Entrepreneurship. Modelle – Umsetzung – Perspektiven. Mit Fallbeispielen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. 3. Auflage. Wiesbaden: Springer Gabler.
Morgan, Gareth (2006): Bilder der Organisation. 4. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta.
Hefti, Jacques / Levie, Jonathan (2014): I have a dream: The role of signalling in entrepreneurial leadership. In: Rencontres de St-Gall 2014. Leadership and the twin fields of entrepreneurship and small business management (Research Conference). St. Gallen. 01.09.2014. S. 57-81.
Heintze, Anne (2013): Außergewöhnlich normal: Hochbegabt, hochsensitiv, hochsensibel: Wie Sie Ihr Potential erkennen und entfalten. München: Ariston.
König, Andreas (2014): Unterrichtsskript Leadership Skills. Masterstudiengang Angewandte Linguistik, Vertiefung Organisationskommunikation (MA AL OK 14). Winterthur.
Küpers, W. (2006). Authentische und integrale, transformationale Führung. Ein Überblick über den „state-of-the-art“ aus akademischer Perspektive. In: Wielens, H. (Hrsg.): Führen mit Herz und Verstand. Authentisch und integral zu einer neuen Kultur der Unternehmens- und Personalführung. Bielefeld: J. Kamphausen Verlag. S. 335-361.
Piccard, Bertrand (1998): Spuren am Himmel. Mein Lebenstraum. München: Piper Verlag.
Piccard, Bertrand (2014): Changer d’altitude. Quelques solutions pour mieux vivre sa vie. Paris: Stock.
Pinnow, Daniel F. (2011): Leadership – What Really Matters. A Handbook on Systemic Leadership. Berlin Heidelberg: Springer Verlag.
Puccio, Gerard J. / Mance, M. / Murdock, Marc C. (2011: Creative Leadership. Skills That Drive Change. 2. Auflage. London: Sage.
Risak, J. / Iro, A. (2007): Dynamischer Mix der Archetypen Entrepreneur, Manager und Leader – ein Erfordernis der Zeit. In: Raich, Margit / Pechlaner, Harald / Hinterhuber, Hans H. (Hrsg.): Entrepreneurial Leadership. Profilierung in Theorie und Praxis. 3. Auflage. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, GWV Fachverlage GmbH. S. 3-20.
Sugerman, Jeffrey / Scullard, Mark / Wilhelm, Emma (2011): The 8 Dimensions of Leadership: DiSC Strategies for Becoming a Better Leader (Bk Business). Oakland, CA: Berrett-Koehler Publishers.
Videos
Le Meur, Loic (2010): State of the Industry: Platform Thought Leaders – Dr. Bertrand Piccard, Initiator & Chairman, Solar Impulse – In: LeWeb 2010. https://www.youtube.com/watch?v=0eWHBxpaNbc [zit. 31.10.2014].
Internetquellen
Bärtschi, Simon / Spieler, Martin (2011): „Geschlafen wird nicht, das werden wir mit Selbsthypnose erledigen“. In: SonntagsZeitung. 2. Oktober 2011. S. 23-24. http://www.sonntagszeitung.ch/suche/artikel-detailseite/?newsid=191485 [zit. 31.10.2014].
Bertrand Piccard, abgekürzt BP (2014): Website von Bertrand Piccard. In: http://bertrandpiccard.com/[zit. 31.10.2014].
Borghoff, Birgitta (2012): Integrale Theorie und Lebenspraxis – Plädoyer für ein umfassendes kulturelles Lebenskonzept und ganzheitliches Bewusstsein. In: Kulturmanagement Network – Das deutschsprachige Portal für Fach- und Führungskräfte in der Kultur- und Kreativwirtschaft. http://www.kulturmanagement.net/beitraege/prm/39/v__d/ni__2118/index.html [zit. 31.10.2014].
Esbjörn-Hargens, Sean (2013): Eine Übersicht integraler Theorie. Ein allumfassendes Bezugssystem für das 21. Jahrhundert. Deutsche Übersetzung: Rainer Weber. In: Integrales Forum Online. http://integralesleben.org/fileadmin/user_upload/LESESAAL/PDF/Integrale_Theorie_-_S._Esbjoern-Hargens.pdf [zit. 4.11.2014].
Konradin Medien GmbH (2014): Marianengraben. In: wissen.de. Online-Wissensportal zum Thema Allgemeinwissen. http://www.wissen.de/lexikon/marianengraben [zit. 31.10.2014].
Pankow, Franziska (2014): SOLAR IMPULSE – Solarflug-Pionier Bertrand Piccard zu Besuch in Freiburg – Piccard wird 2015 zur Weltumrundung aufbrechen. In: Online-Plattform RegioTrends e.K. http://www.regiotrends.de/de/verbraucher-wirtschaft/index.news.246762.solar-impulse—solarflug-pionier-bertrand-piccard-zu-besuch-in-freiburg—piccard-wird-2015-zur-weltumrundung-aufbrechen-.html [zit. 31.10.2014].
Red Bull (2014): Solar-Plane-Around-the-world-without-a-drop-of-fuel. In: Homepage Red Bull. http://www.redbull.com/cs/Satellite/en_INT/Article/Solar-Plane-Around-the-world-without-a-drop-of-fuel-021243189540516 [zit. 31.10.2014].
Solar Impulse, abgekürzt SI (2014): Website des Flugzeugprojekts Solar Impulse. In: http://de.wikipedia.org/wiki/Solar_Impulse [zit. 31.10.2014].
Winds of Hope (2014): Website der Stiftung Winds of Hope. In: http://autre.windsofhope.org/de [zit. 31.10.2014].
Endnoten
[i] Bertrand Piccard, Vortrag und persönliche Begegnung am Event und Treffen international tätiger Airport Manager und Managerinnen am Flughafen Zürich, Frühjahr 2002.
[ii] Beim Marianengraben handelt es sich um einen Tiefseegraben im westlichen Pazifischen Ozean, der mit 11‘034 Metern die tiefste Stelle des Weltmeeres umfasst (vgl. Konradin Medien GmbH 2014).
[iii] Bertrand erforschte das Fliegen in verschiedenen Formen und Fluggeräten: Deltafliegen, Ultraleichtflugzeug, Ballon, Motorflug, Hängegleiter und Fallschirm.
[iv] Die Stiftung Winds of Hope unterstützt Hilfsorganisationen in der Bekämpfung wenig bekannter Leiden, insbesondere Noma – eine unbekannte Krankheit, von der zumeist afrikanische Kinder zwischen zwei und sechs Jahren im Subsahara-Gürtel befallen sind. Die Stiftung intendiert, politischen Instanzen dazu zu bewegen, Notmassnahmen zu ergreifen und sowohl an Öffentlichkeit und Unternehmen bezüglich finanzieller Unterstützung von humanitären Projekten zu appellieren (vgl. Winds of Hope 2014).
[v] Zu den einzelnen Projektetappen von SI vgl. insbesondere SI 2014.
[vi] Das am 24.10.2014 veröffentliche Buch ist im Vergleich zu anderen Werken aus der Perspektive des Arztes und Psychotherapeuten Piccards geschrieben (nicht derjenigen des Pilots). Das Buch setzt sich mit Themen wie Leben, Kommunikation, Selbsthypnose, Krisenmanagement und Spiritualität auseinander. Es appelliert an die grundsätzliche Freiheit unseres Denkens und Handelns und möchte dazu ermutigen, neues und kreatives Verhalten im Hinblick auf eine bessere Zukunft auszuprobieren. Der Autor will den Lesenden mit diesem Buch eine praktische Broschüre mit Beispielen und konkreten Vorschlägen zur Veränderung und Entwicklung mit auf den Lebensweg geben. Das Buch gibt Einblicke in die Welt der spirituellen Führungspersönlichkeit Piccards, die über spezifische kontemplative Eigenschaften und Fähigkeiten wie wache Präsenz, Achtsamkeit, Vulnerabilität und eine hohe Disziplin verfügt (zu Contemplative Leadership vgl. z.B. Eggert 1998: 233ff.)
[vii] Zu Storytelling vgl. z.B. Boje 2008.
[viii] Das Wesen von Hochbegabung in Form von Vielbegabung (Scanner-Persönlichkeit) zeichnet sich durch eine ausgeprägte Neugier an vielen Themen aus, die keine unmittelbare Logik dahinter erkennen lassen. Vielbegabte neigen dazu, sich mit all ihren Ideen sofort und gleichzeitig zu beschäftigen, verfügen über ein breites Wissen und legen mehr Wert auf das Ganze als auf Details. Sie verfügen über eine starke Intuition, ein hohes Mass an Empathie und sind in der Lage, andere Menschen ausgesprochen gut zu motivieren. Auffallend ist überdies ein hohes Energielevel auf allen Ebenen (Beruf, Familie, Freund, Gesellschaft, etc.). Zur Scanner-Persönlichkeit vgl. insbesondere Heintze 2013.
[ix] Innerhalb des SI Projekts werden 11 Solvay-Produkte in dem Solarflugzeug eingesetzt, womit der Konzern seine Kernkompetenz als Anbieter von alternativen und nachhaltigen Energieträgern belegt.
[x] Bei der integralen Theorie (auch integrale Weltsicht oder integrale Philosophie), aus der sich auch die integrale Führung ableitet, handelt es sich um eine umfassende Weltphilosophie, welche scheinbare Gegensätze wie prämoderne, moderne und postmoderne Weltsichten, west-östliche Weisheitslehren und spirituelle Einsichten, wissenschaftliches Denken sowie Wissenschaftstheorie in einem Konzept vereinen möchte. Der derzeit wichtigste Protagonist des Integralen Ansatzes und Vertreter einer post-postmodernen, postmetaphysischen und postrationalen Spiritualität und Gegner der Philosophia perennis (lat. „immerwährende Philosophie“) ist der amerikanische Philosoph und Autor Ken Wilber (geb. 1949). Dieser befasst sich mit der Zusammenführung moderner Forschung, Philosophie, Wissenschaft, Religion, Meditation sowie Einsichten und spirituellen Erfahrungen von Mystikern (vgl. Borghoff 2012).
Wilbers Definition des Wortes „integral“: „Das Wort integral bedeutet umfassend, einschliessend, nicht marginalisierend, umarmend. Integrale Ansätze versuchen in jedem Feld genau das zu sein: die grösstmögliche Anzahl von Perspektiven, Stilen und Methodologien in eine kohärente Sicht des Gegenstands einzubeziehen. In gewissem Sinn sind integrale Ansätze „Meta-Paradigmen“ oder Wege, eine bereits existierende Anzahl verschiedener Paradigmen in ein wechselbezügliches Netzwerk sich gegenseitig bereichernder Ansätze zusammen zu bringen.“ (vgl. Esbjörn-Hargens 2013).
[xi] Zum Konzept der Metapher vgl. z.B. Morgan 2006; Eggert 1998: 72ff.