Der Flötenengel und das kleine Mädchen

Hallo, sagte das kleine Mädchen und blickte gen Himmel. Das leicht entzückte Etwas, was über ihm schwebte, erschrak ob der Verwegenheit des ihm fremden Mädchens, es so direkt anzusprechen. Wie konnte es überhaupt durchsehen durch den Schleier der Verborgenheit? Wer war das kleine Wesen, das er noch nie zuvor gesehen hatte? Und wie konnte es seine seelisch-geistige Welt einfach so betreten? Ohne Vorwarnung? Wieso hatte er es nicht intuitiv vorausgeahnt, dass sich ihm jemand über die lautlose Sprache der Seele nähern würde. Der samtig-goldene Engel stutzte und wunderte sich. Jetzt war er schon so alt und hatte viele viele Ewigkeiten damit verbracht, durch Raum und Zeit zu reisen, um Menschen in Not beizustehen und deren Herzen durch die melodisch-feinsinnige Sprache der Flöte zu berühren und von Ängsten zu befreien.

Hallo? hörte er das kleine menschliche Wesen fragen. Diesmal fordernder, um Antwort bittend. Wer bist Du? Du siehst so ganz anders aus als die anderen Kinder und Erwachsenen, die ich kenne. Woher kommst Du? Ich heisse Madita und komme aus Malmö. Der Flötenengel erschrak. Wie gewandt und bestimmt sich dieses kleine Mädchen ausdrücken konnte. Sie war sicher erst 5 Jahre alt, oder noch jünger. Wer er war, wollte Madita wissen. Wo war er nur wieder gelandet? Es musste wohl Schweden sein, wenn das Mädchen aus Malmö stammte. Wer er war? Ja, wer war er eigentlich? Er wusste es selbst nicht so recht, um ehrlich zu sein. Er reiste viel und spielte die Flöte. Dabei gab er sich ganz dem wunderschönen Gefühl und der Freude hin, die ihm das Flötenspiel immer wieder aufs Neue bescherte. Manche Wesen in der Sphäre, in der er sich bewegte, beneideten ihn, dass er offenbar seine Berufung gefunden habe und leben würde. Er hatte das nie ganz verstanden, was sie damit meinten. Berufung! Was bedeutete das? Zu was fühlte er sich berufen? Er versuchte, zu verstehen, doch sein Herz gab ihm keine Antwort darauf. Und jetzt dieses Mädchen, das wissen wollte, wer er war. Er hatte keine Antwort darauf, denn er wusste es nicht. Es fiel ihm schwer, zu denken geschweige denn nachzudenken. Er nahm alles intuitiv wahr, erfasste Informationen blitzschnell über seine ausgeprägten übersinnlichen Wahrnehmungskanäle. Denken strengte ihn einfach an, manchmal so sehr, dass er sich dabei selbst vergas. Das tat ihm nicht gut und so liess er es, auch wenn das zuweilen bedeutete, dass er allein war und sich andere Wesen von ihm abwandten.

Hallo!. Das Mädchen erhob seine Stimme und wirkte noch ungeduldiger als zuvor. Ich möchte mit Dir sprechen. Warum antwortest Du mir nicht? Bist Du stumm und hast Deine Stimme verloren? Ich will mit Dir spielen! Auch das noch! Ein Fall von sturer Hartnäckigkeit! Die würde er wohl so schnell nicht wieder los, dachte sich der Engel im Stillen. Warum nur tat sie das? Wollte sie ihn ärgern? Wenn sie wüsste, wie schwierig es für ihn war, sich ihr mitzuteilen und auszudrücken, was er empfand, dann hätte sie gewiss nicht weiter gefragt und ihn in Ruhe gelassen. Da war er sich sicher. Und jetzt das. Sie gab nicht auf. Wollte mehr von ihm, als er glaubte, geben zu können. Was sollte er jetzt machen? Er hatte die Wahl. Entweder abtauchen und sich verstecken in der Hoffnung, Madita möge dann weggehen. Das tat er meistens, um sich danach selbst zu bemitleiden, dass niemand lange bei ihm blieb. Oder die unangenehme Situation aushalten, gesehen zu werden aber nicht sprechen zu können, weil ihm das damit vorausgehende Denken nicht gut tat. Er musste sich entscheiden und plötzlich war ihm, als ob ihm ein leiser, wohliger Schauer über die Flügel lief und ihn im Herzen kitzelte. Das war seine Chance! Jetzt oder nie! Er konnte jetzt die Erfahrung seines engelhaften Lebens machen und bleiben. Ohne wenn und aber. Seine eigene Angst vor dem Leben überwinden. Sich nackt zu zeigen, so wie er seinem Wesen nach war. Ganz ohne Worte. Einfach sich selbst sein und die Liebe seines Herzens über die Sprache seiner Seelenheimat ausstrahlen, die in der Seelenmusik der Flöte wurzelte. So gab sich der Flötenengel einen Ruck und zeigte sich Madita in seiner ganzen seelischen Wahrheit und göttlichen Grösse. Durch seine Sprache, die sich keinerlei Worte bediente. Eine Sprache, die sich durch unendliche Vielfalt und Abstufungen verschiedenster Gefühls- und Inspirationsqualitäten ausdrückte. Seine Energiekörper fingen umgehend an zu vibrieren und in den verschiedensten Farben zu leuchten und zu schillern.

Eine feine sehnsuchtsvolle Musik liess Madita plötzlich aufhorchen. Was war das? Hatte das unbekannte Wesen nun doch gesprochen? Oder woher kam die Musik? Es wurde plötzlich sehr hell und das geflügelte Wesen oder was auch immer es war, schwebte gleichzeitig über ihr, unter ihr und um sie herum. Wie konnte das sein? Dann wurde es ruhig und still in ihr und sie fühlte die Gegenwart des Engels.

Ich bin Du, flüsterte der Flötenengel und ich heisse Madita.

Und sie erkannten einander!

© 2013 Text by Birgitta Borghoff. brückenwege.ch. All rights reserved.

Schreiben Sie einen Kommentar